ÖGAPh

Österreichische Gesellschaft Anthroposophischer Pharmazeuten

Grundgedanken zum Leitbild

1. Wo stehen die Apotheker heute?

Anno domini 1241 - das Geburtsjahr unseres Berufes:

Friedrich von Hohenstauffen erlässt per Gesetz, dass der Apotheker von nun an für die Arzneimittel, der Arzt für die Therapie verantwortlich ist. Die ursprüngliche Einheit von Pharmazie und Medizin erfährt die erste Spezialisierung in verschiedene Berufe.

Heute, fast 800 Jahre später, hat sich ein hoch kompliziertes Netzwerk um die Geschicke des Kranken gebildet: Emanzipation von Berufen und Aufgaben einerseits, gegenseitige Abhängigkeit mit teils gegenläufigen Interessen andererseits: ein Spagat. Geld spielt dabei eine zentrale Rolle.

Die Industrie hat die Herstellung von Arzneimitteln weitgehend übernommen: Die Vielfalt aus den verschiedenen Therapierichtungen ist enorm.

Immer mehr Kunden suchen eine individuelle Behandlung.

Wo wollen wir Apotheker hin? Wie verstehe ich mich als Apotheker heute, morgen, in Zukunft?

 

2. Unsere Kernfragen

In diesem Szenario stellen sich für uns Mitglieder der ÖGAPh tiefer liegende Grundfragen. Ihre Bearbeitung zielt darauf hin, sinngebende Zusammenhänge im Umgang mit heilenden Stoffen, den Arzneimitteln, und mit den Kollegen in den Heilberufen neu zu greifen.

Welches Verständnis habe ich vom Menschen, von meinem Kunden, d.h. welches Menschenbild lebt in mir?

Welche Auffassung von Gesundheit und Krankheit habe ich?

Wie verstehe ich die Natur, welchen Substanz- und Stoffbegriff habe ich von ihr?

Wie stehe ich selbst als Apotheker in meinem Beruf und im Gesundheitswesen?

 

3. Ansätze aus der Anthroposophie

Um diese Fragen zu beantworten, können die folgenden Denkansätze aus der Anthroposophie hilfreich sein. Diese betreffen:

3.1 Das anthroposophische Menschenbild

3.2 Neues Verständnis von Krankheit und Gesundheit durch Anthroposophie

3.3 Grundverständnis des Zusammenhangs von Mensch und Natur

3.4 Schulungsweg und Selbsterziehung

 

3.1 Das anthroposophische Menschenbild

Die anthroposophische Medizin und Pharmazie sind eine Erweiterung der naturwissenschaftlich-technisch-universitären Wissenschaft1. Sie stehen nicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft, sondern erkennen deren Forschungsergebnisse an.

Das anthroposophische Menschenbild geht von vier "Wesensgliedern" (Organisationsebenen, Kräftesystemen) aus:

Der physische Leib, unser Körper, ist messbar, wägbar und chemisch-analytisch quantifizierbar. Er unterliegt u.a. der Schwerkraft.

Die Gesetze, die sich im Flüssigen zeigen, sind genau entgegengesetzt: Im Wasser herrschen Leichtigkeit und Auftrieb. Darin wirken die Lebenskräfte. Der „ätherische Leib“ ist Ausdruck der Lebensvorgänge wie Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung. Alle rhythmisch ablaufenden Organfunktionen, Gesetze der Vererbung und Wachstumsprozesse werden als Funktionen des Ätherleibes verstanden.

Wahrnehmung, Empfindungen und Gefühle deuten auf die innerseelische Welt des Menschen hin. Der "astralische Leib", welcher sich nach außen in Bewegung, Laut und Sprache ausdrücken kann, steht im Zusammenhang mit dem Element Luft in seinen verschiedenen Qualitäten.

Das "Ich", die individuelle Geistnatur des Menschen, wird vom Element Wärme getragen. Das "Ich" ist die zentrale, gottverwandte Instanz eines jeden Menschen, welche sich von Inkarnation zu Inkarnation in eigener Verantwortung weiterentwickelt.

Das harmonische Zusammenwirken der vier Wesensglieder ist der Garant für die Gesundheit.

 

3.2 Neues Verständnis von Krankheit und Gesundheit durch Anthroposophie

Zu den zentralen Kenntnissen eines Apothekers gehören diejenigen über den Ursprung, die Zubereitung oder die Anwendung von Arzneimitteln. Sie werden ergänzt durch ein Wissen über Ursachen, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten. Dabei ist es von Bedeutung, sich einen vertieften Begriff von Gesundheit und Krankheit zu machen.

Derzeit gelten noch die Paradigmen einer technisch orientierten Medizin, die den Menschen als eine höchst komplizierte Maschine betrachten und deren Störungen und Beeinträchtigungen im Wesentlichen von außen kommen. Allerdings werden als Krankheitsursachen zunehmend seelische Effekte und Erbfaktoren diskutiert. Der diesen Auffassungen zugrundeliegende Krankheitsbegriff geht also von einem materialistisch-mechanistischen Welt- und Menschenbild aus, das weder Schicksalszusammenhänge noch geistig-wesenhafte Dimensionen mit einbezieht. Es impliziert eine pathogenetische Denkweise, die in der Bekämpfung oder Zerstörung von Fremdprozessen im Organismus ihre therapeutische Maxime sieht.

Ein neues Gesundheitsmodell hingegen, das uns in der Salutogenese2 entgegentritt, geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus: Gesundheit wird hier im Kontext mit körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren gesehen. Im Mittelpunkt steht die Individualität, die über ein mehr oder weniger starkes "Kohärenzgefühl" oder eine seelische Grundhaltung der Welt gegenüber verfügt, was für Gesundheit und Krankheit entscheidend ist. Damit werden die persönlich-biographische Situation eines Menschen einbezogen und präventive Gesundheitsfaktoren erforscht. Ein solches Denken geht davon aus, dass in der Anregung der Eigentätigkeit oder Selbstregulation des Organismus ein wertvolles therapeutisches Prinzip besteht.

Die anthroposophische Medizin kann sich hier anschließen, da sie mit ihren Therapiekonzepten und Arzneimitteln eben solche Ziele verfolgt. Sie entwickelt aber tiefer gehende Begriffe von Gesundheit und Krankheit. Danach beruht Gesundheit auf einem harmonischen Ineinandergreifen oder Zusammenspiel der 4 Kräfte-Organisationen im Menschen. Dabei kommt der Lebensorganisation (Ätherleib) eine besondere Bedeutung zu. Sie ist permanent aufgefordert, die krankmachenden Tendenzen oder Prozesse heilend auszugleichen.

Durch die Auseinandersetzung mit Krankheit ist es für den Menschen möglich, einen Wandel bzw. eine Entwicklung der Persönlichkeit zu erfahren. Arzneimittel aus der Natur, die heilend diesen Wandel anregen bzw. begleiten können, weisen auf einen tiefen, sinngebenden Zusammenhang des gemeinsamen Daseins von Natur und Mensch hin. Dadurch ist es möglich, auf einer rationellen Basis heilende Substanzen zu finden.

 

3.3 Grundverständnis des Zusammenhangs von Mensch und Natur

Wieso aus der Natur überhaupt Arzneimittel gewonnen werden können, wie die Welt der Naturwesen und Stoffe mit dem Menschen zusammenhängt, ist eine zentrale, spezifische Fragestellung der anthroposophischen Pharmazie.3,4

Durch das Studium der Anthroposophie können dafür wertvolle Gesichtspunkte gewonnen werden:

Die Natur verdankt ihre Entstehung göttlichen Impulsen und steht in engstem Zusammenhang mit der Evolution des Menschen. Die Fähigkeiten des Menschen,  Kulturen zu schaffen und sich in Freiheit zu entfalten, hängen damit zusammen, dass die Natur sich in Form von Gesteinen, pflanzlichen sowie tierischen Organismen mehr oder weniger festgelegt hat. Dieses "Opfer" der Natur gibt Anlass zu tiefer Ehrfurcht und Dankbarkeit.

In der "fertigen" Erscheinung von Angehörigen der Naturreiche (Mineral, Pflanze, Tier) verbergen sich Prozesse, die zur Entstehung der Stoffe und Gestalten geführt haben - wie Verhärtungs-, Kristallisationsprozesse im Mineralreich, Aufbau- (und Abbau-)prozesse pflanzlicher Substanzen, Ent-Wickelung der pflanzlichen Gestalt (z.B. Blattmetamorphose im Wachstumsprozess einer Pflanze). Das Einbeziehen solcher Prozesse im Umgang mit den Naturreichen erfordert ein neues, lebendiges Denken (siehe auch weiter unten in Absatz 3.4).

Um Substanzen aus der Natur zum Arzneimittel zu machen, müssen sie im allgemeinen noch dem Menschen angenähert werden, die therapeutischen Qualitäten sind herauszuarbeiten, die Wirkrichtungen können beeinflusst werden. In der Verarbeitung der Natursubstanzen zum Arzneimittel bedient man sich spezifischer pharmazeutischer Prozesse.5

 

3.4 Schulungsweg und Selbsterziehung

Wer sich mit der Anthroposophie befasst, wird zwangsläufig auf den "Schulungsweg" stoßen, d.h. sich die Frage stellen, inwieweit er sich auf Elemente eines spirituellen Übungsweges einlassen will.

Die Motive hierfür können unterschiedlich sein.

Das Grundwerk dazu "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten"6 z.B. gibt Anleitungen, um zu geistigen Erlebnissen kommen und folglich umsetzen zu können.

Der Wunsch, sich selbst besser kennen zu lernen, kann im Mittelpunkt stehen. Wer so nach Selbsterkenntnis trachtet, erfährt schnell seine Unzulänglichkeiten und Schwächen. Diese zu beheben oder zu verwandeln, kann ein Bedürfnis sein, sich auf den Weg der Selbsterziehung zu machen.

Immer mehr sich des eigenen Ichs bewusst zu werden und aus dem Ich heraus sein Leben in die Hand zu nehmen, ist eine starke Motivation, regelmäßig Übungen vorzunehmen.

Mein Denken, Fühlen und Wollen haben unmittelbaren Einfluss auf meine Mitwelt, so dass ich mein Denken schulen, mein Gefühlsleben beherrschen und mein Handeln auch an den Bedürfnissen der Mitmenschen ausrichten lernen will.

Mein Beruf als Apotheker steht im Dienste der Gesundheit der Menschen. Ich kann zur sozialen Gesundheit beitragen, wenn ich mein Seelenleben schule und Grundtugenden erübe.

Der tiefe Wunsch kann bestehen, der Sinnfrage des eigenen Lebens nachzugehen. Auch das erfordert viele Schritte in der Selbsterkenntnis und einen längeren Übungsweg.

Wer die Welt als wesenhaft anerkennt, weiß, dass höhere Wesen auf die spirituelle Mitarbeit des Menschen angewiesen sind.7

Der anthroposophische Schulungsweg muss aber von jedem selbst entdeckt und aufgebaut werden. Er ist ein individueller. Jeder ist sein eigener Architekt dafür.

Ein anderer Lehrmeister für unseren Übungs- und Schulungsweg als Pharmazeuten ist Goethe. Der "Goetheanismus" ist die an Goethe sich anschließende wissenschaftliche Arbeitsweise. Goethes Erkenntnisart ist in ihrem umfänglichen Wert gerade auch für die Weiterentwicklung der Naturwissenschaften durch die erkenntnistheoretischen Arbeiten R. Steiners erneut zugänglich geworden.8 Goethes Methode ermöglicht es, in der Naturbetrachtung Begriffe zu entwickeln, die lebendig und wandlungsfähig sind und sich daher eignen, die fortwährend sich wandelnden Erscheinungen der lebendigen Welt zu verstehen (z.B. der goethesche Begriff der Metamorphose, mit Hilfe dessen die Verwandlung der Blattformen innerhalb einer Pflanzenart logisch nachvollziehbar wird).

Literaturliste

  1. Rudolf Steiner, Ita Wegman, "Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst" (GA 27), Kapitel I, Rudolf Steiner Verlag, Dornach (CH)
  2. Aaron Antonovsky, "The Sense of Coherence as a Determinant of Health". In J.D. Matarazzo (Ed) Behavioral Health: A Handbook of Health Enhancement and Disease Prevention. New York: John Wilet & Sons, 1984
  3. Dankmar Bosse, "Die Gemeinsame Evolution von Erde und Mensch", Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2002
  4. Jos Verhulst, "Der Erstgeborene", Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2001
  5. International Association of Anthroposophic Pharmacists (IAAP), "Anthroposophic Pharmacopoeia"
  6. Rudolf Steiner, "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten" (GA 10), Rudolf Steiner Verlag, Dornach (CH)
  7. Rudolf Steiner, "Anthroposophische Leitsätze" (GA 26), Rudolf Steiner Verlag, Dornach (CH)
  8. Rudolf Steiner, "Goethes Weltanschauung" (GA 6), Rudolf Steiner Verlag, Dornach (CH)
  9. Rudolf Steiner, "Karma des Berufes" (GA 172), 4. Vortrag, Rudolf Steiner Verlag, Dornach (CH)
  10. Rudolf Steiner, "Die Philosophie der Freiheit" (GA 4), Rudolf Steiner Verlag, Dornach (CH)
  11. Umweltpolitik Agenda 21, Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Documents, herausgegeben vom Bundesverband für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bonn 1997